Warum Esssucht nicht gleich Esssucht ist

„Ich würde gerne etwas ansprechen, ich hoffe aber, dass es nicht zu sehr als Kritik rüberkommt“, sagte sie und sah mich mit ihren Lächelaugen an, als wir bei Ekas Einweihungsfeier gemeinsam auf dem Balkon standen.

Kennt ihr diese Menschen mit Lächelaugen? Die, die so lieb und lustig schauen, dass man, so lange sie einen ansehen, unwillkürlich selbst dauerlächelt? Ja, so ist sie, unsere Einfach-nur-Anne. Aber ich schweife ab…

Sie erzählte mir von ihren Bedenken, nämlich dass bei LCHF (oder vielleicht gerade besonders auf LCHF.de) der Fokus sehr stark auf der Zuckersucht läge und es jedoch noch mehr Auslöser für Essanfälle bei Esssucht gäbe, die sich nicht genauso mit der Restriktion der Kohlenhydratmenge angehen ließen und dass ihr das auf der Webseite fehlen würde. Und und und..

Ich staunte die legendären Bauklötze. Das waren Auslöser bei Esssucht, die ich mir noch nie wirklich bewusst gemacht habe, auch wenn ich jeden einzelnen tatsächlich grundlegend nachvollziehen kann. Und ich gebe kleinlaut zu, dass sie Recht hat. Mein Fokus und damit natürlich auch der von LCHF.de (schließlich bin ich bis vor kurzem allein „die Redaktion“ gewesen) liegt auf der Zuckersucht, damit hatte ich mich aus persönlicher Betroffenheit intensiv auseinander gesetzt. Und bei Zuckersucht ist Low Carb High Fat wirklich eine geniale Chance, um zunächst den Heißhunger und dann, mit viel Einsatz und Achtsamkeit, die Sucht an sich zumindest in Schach zu halten. Darum auch die Serie zur Zuckersucht von My Westerdahl

Nach ihren bemerkenswerten Ausführungen war es an mir, meine „besten Sonntagslächelaugen“ aus der Hosentasche zu ziehen: „Wie wäre es, wenn du etwas darüber schreibst? Wer könnte das besser als du? Ich möchte nichts falsch machen, das ist zu wichtig.“

Und dann? Dann lächelten wir gemeinsam.

Danke, Anne! 

Du Löwenherz! <3

Esssucht - Frau will Keks aus Mausefalle holen

Jede Jeck is anders, sagt man in Köln

Ich mag die Gelassenheit der Kölner, und in der entspannten Feststellung, dass einfach jeder Jeck anders jeck ist (Anmerkung: Ein „Jeck“ ist ein „Narr“ und „jeck“ sein ist „verrückt“ sein), steckt genau das, worum es mir hier geht – darum, dass Esssucht viele Gesichter hat, und dass es sich lohnt, genauer hinzusehen.

Unter Esssucht verstehe ich allgemein den nicht kontrollierbaren Drang zu essen. Diesen Drang kenne ich und er hat mich über lange Zeiten meines Lebens begleitet, phasenweise im Binge Eating [1] äußerst schädliche Formen angenommen. Der Drang geht über eine reine Unbeherrschtheit weit hinaus und genauso wenig, wie man wohl einem Alkoholiker sagen würde, er solle halt weniger trinken, kann man von einem Esssüchtigen verlangen „einfach“ weniger zu essen.

Ein Problem der Esssucht ist, dass es nicht möglich ist, den Trigger komplett aus dem Leben zu verbannen. Alkoholiker müssen lernen, vollständig auf Alkohol zu verzichten, Heroinabhängige auf Heroin – aber Esssüchtige auf Essen?

Esssucht ist nicht gleich Esssucht

Esssucht ist ein Etikett, das mir zum ersten Mal in der Mitte meines Studiums aufgeklebt wurde. Für mich gab es immer „die Esssucht“, wie „die Magersucht“ und „die Bulemie“, und damit war für mich klar, dass es nicht den Ausweg des Entzugs gab.

Beim Eintritt in der LCHF-Forum habe ich zum ersten Mal die Bezeichnung „Zuckersucht“ kennengelernt. Der Drang, unkontrolliert zu essen, wird hier durch kurzkettige Kohlenhydrate ausgelöst. LCHF ist für viele Betroffene ein idealer Weg aus dieser Abhängigkeit, da sie ihren Trigger tatsächlich vermeiden können. [2]

Für mich selbst konnte ich die Zuckersucht schnell ausschließen. Ich ernähre mich nicht streng nach LCHF und wenn ich – beispielsweise bei einem Krankenhausaufenthalt – eine Ausnahme mache, hat das für mich keine Konsequenzen.

Trotzdem hat das Kennenlernen dieser Unterkategorie der Esssucht mich zum Nachdenken gebracht:

Man kann in einer Esssucht nicht aufhören zu essen, aber man kann kurzkettige Kohlenhydrate vermeiden. Gibt es vielleicht mehr Unterkategorien und damit mehr Trigger, die man sich bewusst machen und dann anders damit umgehen kann?

Ich konnte feststellen, dass es tatsächlich keine Gruppe von Lebensmitteln gibt, die diesen Effekt auf mich haben, aber ich habe mehrere andere Faktoren entdecken können, von denen ich hier drei als Beispiele vorstellen möchte. [3] Allen diesen Faktoren ist bei mir gemeinsam, dass sie der langen Diätkarriere entsprungen sind, die ich hinter mir habe. [4]

Die Sucht nach Fülle

Viele Jahre der Diäten haben mir die Sucht nach großen Mengen eingebracht. Ab dem siebten Lebensjahr wurde ich durch eine Diät nach der anderen geführt – am längsten war es die Brigitte Diät mit ihren abgewogenen Mahlzeiten – kleine, kleine, kleine Portionen. Mein Hunger wurde unstillbar und aus dem Genuss leckerer Mahlzeiten wurde einfach nur der Wunsch nach mehr, nach Fülle, nach einem endlich mal vollen Magen. [5]

Ein voller Magen ist noch heute ein Genuss für mich. Da ich das nun aber weiß, kann ich damit auch umgehen – so esse ich gerne mittags einen großen Salat. Der ist angereichert mit Fett und Protein um nachhaltig zu sättigen – vor allem ist es aber eine wirklich große Portion. Ich weiß inzwischen, dass es keine große Portion hochkalorischer Lebensmittel mehr sein muss, sondern dass es wirklich nur eine Frage des Volumens ist und in der Form schadet das nicht. Die anderen Mahlzeiten kann ich in normalen Mengen halten und erkenne auch, wenn mein Wunsch nach mehr aus dem Wunsch nach Fülle kommt.

Situationen

Der Suchtfaktor, der mich am längsten begleitet hat, war die Verbindung mit Situationen. Situationen, in denen ich mir Essen erlaubt habe. Viele werden es kennen, dass man sich im Urlaub mal etwas mehr gönnt, oder bei einem Geburtstag, einer Hochzeit. Trotzdem bleibt normalerweise das Gefühl, noch entscheiden zu können.

Bei mir gab es Situationen, in denen ich Kontrollverlust erlebt habe – natürlich hat mir niemand das Essen in den Mund geschoben und trotzdem fühlte ich mich einem Drang ausgeliefert, gegen den mein Verstand nicht ankämpfen konnte.

Sehr hartnäckig war das Essen an Bahnhöfen, das ich erst vor ca. 1-2 Jahren überwinden konnte, und erst vor wenigen Wochen habe ich es geschafft, die Verbindung zwischen Mittagschlaf und dem Essen danach zu lösen – besonders tückisch, weil da der Verstand noch schläfrig ist, wenn der Drang sich meldet – wie oft hatte ich da schon gegessen, bevor ich wirklich wach war…

Verbote

Verbote sind ein ganz schlimmer Trigger für mich – ich schreibe bewusst „sind“, denn ich kann damit immer noch nicht umgehen. Ich mag keinen Fisch – ich denke, wenn man mir verbieten würde, Fisch zu essen, würde ich sofort einen haben wollen.

Zu lange waren wechselnde Nahrungsmittel verboten oder umgekehrt nur eine eingeschränkte Zahl an Nahrungsmitteln erlaubt – meine erste Diät bestand ausschließlich aus Käse – ich mochte damals noch nicht einmal Käse…

Mein Problem mit Verboten bekomme ich mit moderatem LCHF recht gut in den Griff – ich habe nicht das Gefühl auf etwas verzichten zu müssen, weil ich eigentlich alle Bedürfnisse befriedigen kann – und deshalb esse ich auch Nachbauten…. Im Forum wird oft und aus nachvollziehbaren Gründen von sogenannten Nachbauten abgeraten. [6] Wer unter Zuckersucht leidet, kann von diesen ebenso getriggert werden, wie vom Original.

Mit der Ablehnung von Nachbauten habe ich lange gehadert, weil ich das Gefühl hatte, etwas falsch zu machen. Bei der Analyse, welche Funktion sie für mich haben, konnte ich mich mit ihnen aussöhnen. Sie haben keinen triggernden Effekt auf mich, verhindern aber umgekehrt das Gefühl, verzichten zu müssen.

Verbote als Trigger sind auch der Grund, warum ich nicht streng LCHF esse. Das Verbot von Früchten in den Portionsgrößen, die ich möchte, würde für mich das ganze Konzept scheitern lassen. Ich habe es ausprobiert, denn die tollen Erfolge der anderen, weckten in mir den Wunsch auch konsequent das Konzept zu verfolgen, aber der Versuch ging komplett schief und führte dazu, dass ich zwar konform, aber zu viel gegessen habe. [7]

An dieser Stelle muss ich den Mitgliedern des Forums ein großes Kompliment machen – ich habe in dem Zusammenhang überlegt, das Forum zu verlassen, weil ich mich eben nicht komplett konform verhalten kann, aber ich bin dort trotzdem zuhause und willkommen. Natürlich rate ich niemandem, meinen Weg zu gehen – vor allem keinem, der gerade neu einsteigt und erst einmal lernen muss, was LCHF eigentlich bedeutet.

Warum mir moderates LCHF hilft

Vielleicht fragt ihr euch, warum ich ohne zuckersüchtig zu sein von (moderatem) LCHF profitiere. Diese Form von Ernährung lässt mich die Signale meines Körpers besser verstehen.

Letztlich signalisiert der Körper eigentlich dann Hunger, wenn Energie oder Nährstoffe fehlen. Was wir ihm dann zuführen, ist unsere Interpretation dieser Signale.

Essen wir kurzkettige Kohlenhydrate erzeugen wir eine Insulinreaktion, die zu Hunger fühlt, der keinen echten Mangel zur Grundlage hat. Früher einmal war das durchaus sinnvoll. Wenn es etwas Süßes gab, konnte das viel Energie spenden und es war gut, davon viel aufnehmen zu können. So war es durchaus eine gute Idee, wenn der Körper signalisiert – „nimm mehr davon“.

Bei LCHF wird der Körper mit den wichtigen Nährstoffen versorgt. Gleichzeitig wird der Insulinspiegel niedrig gehalten und so entsteht bei mir kein Heißhunger mehr. So muss ich nicht ständig darüber nachdenken, was ich vielleicht wann essen sollte oder könnte. Ich komme mit drei Mahlzeiten, von denen eine ein Kaffee mit Kokosöl ist, gut über den Tag und nehme entspannt ab.

Diese Ausgangssituation hat mir sehr bei der Suche nach meinen Triggern geholfen. Wenn ich zu einem Zeitpunkt Hunger empfand, der ungewöhnlich war, konnte ich genauer hinsehen und verstehen, woher er kam.

Warum dieser Beitrag?

Der Grund, warum ich diesen Beitrag geschrieben habe ist, dass ich euch allen Mut machen möchte, einmal genau hinzusehen. Wenn ihr das Gefühl kennt, von einer von euch nicht beherrschbaren Macht zum Essen getrieben zu werden, dann lohnt es sich herauszufinden, wie genau euer „Gegner“ aussieht, denn wie mir die letzten Monate gezeigt haben, sind die Gegner dann viel einfacher zu bekämpfen. Gegen den dunklen, diffusen Drang zu essen anzugehen ist schwer – er ist nicht greifbar, wie soll man ihn zurückdrängen?

Es ist etwas anderes, wenn ich weiß, dass es gerade um bestimmte Orte geht, oder um Angst benachteiligt zu werden, oder nie genug zu bekommen. Denn wenn ich meinen Drang so analysieren kann, kann ich auch im Kampf konkret werden. Ich muss mir nicht verbieten, gegen den Drang anzugehen – eine Herausforderung, an der ich immer wieder gescheitert bin. Ich kann lernen mich konkreten Situationen zu stellen. Wenn ich merke, dass ich nur etwas essen will, weil ich gerade am Bahnhof bin, dann kann ich mir die Absurdität dieser Tatsache vor Augen führen, mir klar machen, dass ich eigentlich keinen Hunger haben kann und dass der Bahnhof wohl kaum über mein Essverhalten bestimmen kann.

Meine Trigger müssen nicht eure Trigger sein, aber vielleicht macht ihr euch auch auf die spannende Entdeckungsreise.

Annes Fußnoten zum Text

[1] Extreme Anfälle des Überessens

[2] Hinter dieser Sucht steht auch eine biologische Logik. Kurzkettige Kohlenhydrate führen zu einer Insulinausschüttung. Diese erfolgt in Form einer Überregulation – es wird mehr Insulin als benötigt ausgeschüttet und das überflüssige Insulin führt zu Heißhunger. Die tatsächliche Sucht geht durch ihre psychologische Komponente aber über diesen Zusammenhang hinaus.

[3] Ich klammere hier bewusst das Binge Eating aus – die Ursachen dafür waren komplexer und gehören nicht in diesen Zusammenhang.

[4] Einige der Zusammenhänge sind mir durchaus schon länger klar, als dass ich im Forum bin. Sie waren aber eher Auslöser für „die Sucht“, als dass ich sie als eigenständige Süchte erkannt habe.

[5] Hier war dann der Weg zum Binge Eating nicht weit.

[6] Zu den Nachbauten zählen alle Versuche eigentlich KH-lastige Produkte durch kh-freie oder –arme zu ersetzen – beispielsweise Brot ohne Mehl.

[7] Inzwischen habe ich für mich die Lösung gefunden, recht viel Sport zu betreiben, so dass die zusätzlichen KH schnell abgefangen werden – mein ausbleibender Hunger zeigt mir deutlich, dass mein Insulinspiegel da ist, wo er sein soll.

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