Februar 2009 – Gewicht: deutlich über 120 kg
Der Elternabend in der Schule ist vorbei. Draußen ist es dunkel und nass. Ich schleiche frustriert Richtung Parkplatz.
Weshalb finden solche Veranstaltungen prinzipiell im zweiten Stock statt? Wie soll man mit viel Übergewicht zumindest halbwegs würdevoll im Klassenraum ankommen, wenn es eine gefühlt unendliche Anzahl an Treppenstufen zu überleben gilt? Wenn Puls und Atmung oben auf dem letzten Absatz erst heimlich krampfhaft unter Kontrolle gebracht werden müssen, bevor man sich hinein traut? Ich habe mich unwohl gefühlt zwischen den anderen, beobachtet wie eine ungewöhnliche Kreatur auf einem mittelalterlichen Jahrmarkt.
„Wann bist du zurück?“, hatten sie mich vorher Zuhause gefragt. „Keine Ahnung. Es werden garantiert wie immer welche dabei sein, die die Veranstaltung durch überflüssige Fragen unnötig in die Länge ziehen“, hatte ich entgegnet.
Mein Gewissen hängt bis zum Boden durch, fließt die schweren Beine hinunter in die geschwollenen Füße. Ich weiß, was jetzt passieren wird, dennoch frage ich mich, warum ich es nicht einfach sein lasse.
Aus der Ferne schimmert die Leuchtreklame des Burgerladens, die gebratene Pracht ist bis hierher zu riechen. Sie zieht mich magisch an und ich zögere nur den Bruchteil eines Moments, bevor ich die Eingangstür aufdrücke. Eigentlich bin ich auf Diät, ich muss endlich abnehmen! ‚Ab Morgen, ganz bestimmt. Morgen ist der perfekte Tag für einen neuen Anfang‘, versuche ich mich zu überzeugen, bevor ich meine Bestellung aufgebe. „Vier große Hamburger, zweimal Cola, zwei große Portionen Pommes. Einen Burger ohne Zwiebel, meine Tochter mag das nicht. Ach so, und noch Extra-Mayo für den Göttergatten. Die Meute hat Hunger.“
Das künstlich eingeflochtene Lachen hinterlässt ein unangenehmes Echo in meinem Hirn, jagt einen peinlich berührten Schauer in die Magengrube. Die Bedienung scheint meine Unsicherheit nicht zu merken, sie erledigt mechanisch ihren Auftrag.
Nervös nestele ich mit meinen Fingern am bereitgehaltenen Portemonnaie. Druckknopf auf und zu, auf und zu. Das dauert so lange! Werde ich beobachtet? Glaubt man mir, dass die Bestellung einer ganzen Familie gilt, oder denkt vielleicht jemand angewidert: ‚Kein Wunder, dass die fett ist. Wie kann man nur…‘? Ich würde eventuell so denken, wenn ich schlank wäre. Leider denke ich manchmal sogar so, obwohl ich selbst dick bin. Verräterin.
Angespannt krame ich die Summe hervor, die mir genannt wird, raffe die Tüte an mich und verlasse zügig den Ort des Geschehens. Beruhigend steigt mir der Duft der Burger in die Nase. Am Parkplatz angekommen, öffne ich die Autotür und ärgere mich einen Moment, weil ich mich ungelenk auf den Sitz schieben muss. Es wird nicht lange dauern, bis ich wegen der Enge ein Loch in das Polster gewetzt habe. Der Einstieg ist eben nicht auf Menschen meines Ausmaßes ausgelegt. War bei dem Auto davor nicht anders. Ich hinterließ ein eingescheuertes Schandmal.
Der Parkplatz ist nach 21 Uhr zwar so gut wie leer, dennoch steuere ich das Auto an einen unbeleuchteten Ort im Schutze einer Hecke. Die Tüte knistert beim Öffnen unter meinen Fingern. Das Kondenswasser tropft durch das Verpackungsmaterial hindurch auf meinen Schoß. Verräterische Flecken – ich darf bloß nicht vergessen, die Hose nachher ganz unten in die Schmutzwäsche zu legen.
Ich stopfe in emotionalem Blindflug den Tüteninhalt in mich. Ein Burger folgt dem nächsten, die Pommes piken im Mund, weil ich sie zu schnell hineindrücke. Egal, das unangenehme Gefühl lässt sich durch Cola dämpfen. Ich halte erst inne, nachdem alles verschlungen ist. Leere in der Tüte, Leere im Gehirn, Leere im Herzen.
Mechanisch zerknülle ich die Papiertüte, stopfe sie tief in das Handschuhfach und spüre, wie Tränen in mir aufsteigen. Sie lassen sich nicht aufhalten, auch wenn ich hastig versuche, sie mit den Fingern, die nun unerträglich nach Burger riechen, wegzuwischen. Ich brauche einige Minuten, bevor ich den Motor starte, eine gute Weile bis ich mich beruhigt habe.
Zuhause ist es still. Alles schläft. Es ist ja auch schon spät, der Elternabend hat eben länger gedauert. Ich krieche ohne Umwege ins Bett. Im Spiegel ansehen mag ich mich heute eh nicht mehr.